Armutsforscher: Ein Drittel kann sich das Leben nicht mehr leisten

Tiroler Tageszeitung Online, 26.6.2022

Interview: Brigitte Warenski

Auch voll erwerbstätige Menschen sind laut Fiskalrat durch die Teuerungswelle armutsgefährdet. In Tirol ist beim Wohnen die Belastungsgrenze überschritten, sagt Armutsforscher Exenberger.

Wohnen, Lebensmittel und Co: Braucht man mehr als man verdient, muss man auf Reserven zurückgreifen. Fehlen diese, droht die Verschuldung und langfristig die Privatinsolvenz. In Tirol sind die Privatkonkurse laut KSV1870 im ersten Halbjahr um 65,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen – der höchste Anstieg im Bundesländervergleich.

© iStock, Zahlenquelle: Bericht des Fiskalrats


Innsbruck – Die Teuerungswelle vor allem bei Energie und Lebensmitteln seit Beginn des Ukrainekrieges hat die Konsumausgaben steigen lassen. Durch die Preissteigerungen im ersten Quartal 2022 können die einkommensschwächsten 35 % der österreichischen Haushalte ihre Konsumausgaben nicht durch ihr monatliches Einkommen finanzieren, zeigt eine Analyse des Büros des Fiskalrats (unabhängiges Gremium zur Überwachung der Fiskaldisziplin). Von diesen Haushalten beziehen mehr als 50 % als Haupteinnahmequelle ein Erwerbseinkommen. Laut Konsumerhebung 2019/20 waren es noch 25 % der Haushalte, die sich das Leben nicht mehr leisten konnten.

 

Droht mit der Teuerungswelle eine neue Armut?

 

Andreas Exenberger: Mit der Analyse des Fiskalrats haben wir aktuelle Daten über Einkommen und die Ausgabenstruktur und das zusammen ergibt wichtige Aussagen über die Armutsgefährdung. Und diese Daten zeigen: Die Problematik, dass man mit dem Einkommen nicht auskommt, nimmt leider zu.

 

Für viele ist das Leben so nicht mehr leistbar. Wie groß ist die Gefahr der Verschuldung?

 

Exenberger: Menschen mit niedrigem Einkommen müssen im Allgemeinen natürlich deutlich mehr – relativ gesehen – speziell für das Wohnen und Nahrungsmittel ausgeben. Damit nimmt mit der Teuerungswelle gerade in dieser Gruppe die Betroffenheit zu, denn es sind ja genau die Güter inklusive der Wohnnebenkosten (wie Strom), die momentan besonders unter Druck sind. Man hat üblicherweise keine Reserven, und so muss man sogar auf Dinge verzichten, die man eigentlich zum Leben braucht. Oder man verschuldet sich und irgendwann ist die Verschuldung zu groß und wenn das dauerhaft bleibt, schlittert man in die Privatinsolvenz. Gerade in Tirol tun sich die Menschen da schwer, sich rechtzeitig z. B. in der Schuldenberatung Unterstützung zu holen.

 

Kommt die Armutsgefährdung in der gesellschaftlichen Mitte an?

 

Exenberger: Es merken alle die Inflation, wirklich zu spüren bekommt sie aber vor allem eine bestimmte Gruppe und diese Gruppe wächst jetzt eindeutig in den Mittelstand hinein. Auch die Sozialeinrichtungen stellen fest, dass zu ihnen Personen kommen, die vorher noch nie Probleme hatten – und das bereits während der Corona-Pandemie. Die Analyse des Fiskalrats zeigt, dass es immer mehr Menschen betrifft, die voll erwerbstätig sind und „working poor“ werden. Niedrige Pensionen, Teilzeit, Migrationshintergrund und Ein-Eltern-Haushalte waren schon vorher Armutsrisiken.

 

Höchste Mieten bundesweit, niedrigste Löhne in Österreich. Wie leistbar ist Tirol?

 

Exenberger: Wir brauchen in Tirol bei den Themen Arbeit und Wohnen wirklich einen Paradigmenwechsel. Es geht nicht mehr, dass man es einfach laufen lässt – weil man nicht alle möglichen heiligen Kühe anfassen will. Beim Wohnen ist die Belastungsgrenze überschritten und wenn man nicht an allen Stellschrauben dreht, schlittern wir in eine schwere Wohnungskrise. Ich rede da ja gar nicht von Eigentum, das sowieso nur mehr mit Erbschaften geht. Es ist sogar schwierig geworden, sich Wohnungsmieten mit einem Durchschnittsgehalt zu leisten. Vielleicht sollten wir über ein Grundrecht auf Wohnen reden?

 

Es werden staatliche Antiteuerungsmaßnahmenpakete geschnürt. Gehen die Hilfen in die richtige Richtung?

 

Exenberger: Es braucht keine Maßnahmen für Leute wie mich – wie Steuergeschenke. Die Maßnahmen müssen noch viel treffsicherer werden und dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Einmalzahlungen bringen nur als Notfallmaßnahme was. Viel wichtiger und längst fällig ist aber die Indexierung von Sozialleistungen und dass man Politik macht, die möglichst die Inflationsdynamik eindämmt. Und es braucht höhere Löhne, wobei man den Unternehmen bei den Lohnnebenkosten entgegenkommen sollte. Zudem müssen wir zu einer Gesellschaft werden, in der Hilfe-Annehmen nicht mehr schambehaftet ist. Es muss als selbstverständlich gesehen werden, dass Menschen, die soziale Unterstützung brauchen, sie auch suchen, finden und erhalten. Meist besteht ja sogar ein Rechtsanspruch. Trotzdem fühlt man sich als Bittsteller.

 

Der deutsche Finanzminister Christian Lindner hat gemeint, man müsse sich auf fünf Jahre Verknappung und Wirtschaftskrise einstellen. Was bedeutet das für die Haushalte?

 

Exenberger: Wir in Österreich werden uns als Gesellschaft – was nicht heißt jeder Einzelne – noch Lebensmittel leisten können. Beim Gas ist es die Verknappung, mit der wir im Herbst rechnen müssen, und daher brauchen wir eine Strategie, wie wir damit umgehen. Neue Energie-Preiserhöhungen können wir mit Unterstützungsmaßnahmen abfedern, das Problem ist aber, dass die Energiekosten andere Preise noch mitziehen werden, weil die Unternehmen gezwungen sind, diese in ihre Produkte und Dienstleistungen einzurechnen. Zudem bleiben die Preise dauerhaft höher, auch wenn die Inflation wieder sinkt.

 

Der Ukrainekrieg und die damit ausbleibenden Weizenlieferungen führen dazu, dass man im globalen Süden vor einer humanitären Katastrophe steht.

 

Exenberger: Durch den Ukrainekrieg werden wir eine Nahrungsmittelknappheit am Weltmarkt erleben und da sind die internationalen Hilfsorganisationen nun sehr gefordert. Es braucht aber vor allem eine starke globale Initiative, die dieses globale Problem angeht. Tut man nichts, droht die Gefahr, dass viele Millionen Menschen mehr wieder hungern werden. Es muss ja langsam überall durchsickern, dass man nur durch Kooperation die Klimakrise, die Nahrungskrise und den Ukrainekrieg einigermaßen bewältigen kann.

 

Das Interview führte Brigitte Warenski

 


Löhne und Mieten

  • Niedrigste Einkommen: Im Jahr 2020 war Tirol wiederum im Bundesländervergleich Schlusslicht bei den Einkommen. Das mittlere Jahres­bruttoeinkommen betrug 27.810 Euro, mit einem Rückstand von 5,7 % auf den österreichischen Schnitt. (Einkommensbericht der Arbeiterkammer, 2021 liegt noch nicht vor).
  • Höchste Mieten: Im ersten Quartal 2022 sind die Mieten gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 8 % gestiegen. Tirol weist damit die höchsten Mieten Österreichs auf. Der Quadratmeter einer Mietwohnung kostet aktuell im Median 16,10 Euro (Daten Immobilienplattform Immowelt).

 


Zur Person

Andreas Exenberger:

Der assoziierte Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Innsbruck ist Experte für Armutsforschung im lokalen und globalen Kontext.